Die Reise
Mittwoch, 16. August (1944)
Ankunft in
Paris am Gare de l’Est, von dort nach Gare du Nord zur Unterkunft. Wir
besuchen Notre Dame, alles zu Fuß, da erstens Verkehrs- und zweitens
Zahlungsmittel knapp sind. Auf der Frontleitstelle weiß man nicht mehr
wie die Front verläuft, nur eines ist sicher, nämlich, dass unsere
Einheit eingeschlossen ist. Unser »Transportführer«, ein Unteroffizier
wie wir alle, nur hat er die Reisepapiere, fasst den heroischen
Entschluss, auf einem LKW in den Kessel einzusickern.
Im
Jahr 1944 wird der 18jährige Gerhard Freund zur Wehrmacht eingezogen
und nach Paris geschickt, wo er die besetzte Stadt gegen die
heranrückenden Alliierten verteidigen soll. Dem „heroischen Entschluss“
mag er nicht folgen und desertiert, gerät dann aber zunächst in die
Fänge der Résistance und anschließend in amerikanische
Kriegsgefangenschaft. Mehr als 60 Jahre später findet sein Sohn René
Freund im Nachlass des Vaters dessen Kriegstagebuch, das er am
Abreisetag Richtung Paris begonnen hatte zu schreiben. Bei der Lektüre
erfährt er vieles, worüber der Vater nie gesprochen hat. Im Bemühen, dem
Vater noch näher zu kommen, fährt er nach Paris. Und er spricht mit
Zeitzeugen, beispielsweise dem Vater seines Ex-Schwagers, der ebenfalls
im Jahr 1944 in Frankreich am Krieg teilnahm. Allerdings auf Seiten der
Alliierten – denn er gehörte zu den Amerikanern, die am 6. Juni im
Abschnitt Omaha in der Normandie landeten…
Wow, was für
ein Buch! Ich lese ja ohnehin sehr gerne Zeitgeschichtliches, aber
dieses Buch hatte für mich etwas ganz Besonderes.
Da
war zunächst mal die Ausgangssituation: Ein Sohn findet das
Kriegstagebuch seines Vaters und ergreift die Gelegenheit, mehr über ihn
zu erfahren. Ich kann das sehr gut nachvollziehen! Es gibt ja
Zeitzeugen, die über ihre Erlebnisse sprechen. Aber nicht wenige
Menschen sind dazu überhaupt nicht in der Lage – ein aus Selbstschutz
errichteter Verdrängungsmechanismus hält sie davon ab. Und auch wir tun
uns oft schwer, aktiv auf die Älteren zuzugehen und Fragen zu stellen.
Zumal wenn man befürchten muss, dabei Wunden aufzureißen. Ich kenne
das.
Das Tagebuch tat das, was ein Tagebuch soll: Es
nahm ganz persönliche Eindrücke und Empfindungen des Schreibers auf. Als
Leser ist man dadurch sehr viel näher am Geschehen, als es ein reiner
Tatsachenbericht bieten könnte.
Der 18jährige Gerhard Freund hat
sich bestimmt nicht vorgestellt, dass sein Tagebuch 70 Jahre später der
Öffentlichkeit bekannt gemacht würde. Für ihn war es wohl nur ein Weg,
seine Ängste zu verarbeiten. Ich habe selbst einen 18jährigen Sohn und
ich weiß, wie verletzlich so ein junger Mann unter seiner oft coolen
Schale ist.
Bemerkenswert ist, wie gut und ausführlich die
Einträge geschrieben sind. Zudem findet sich im Schreibstil immer wieder
eine herrliche Ironie, an anderen Stellen aber eine auffällige
Nüchternheit. Für mich ein deutliches Zeichen dafür, wie schwer die
Situation für den jungen Mann war. Ein Beispiel: In einem Eintrag
beschreibt er das Einladen von Verwundeten in einen Eisenbahnwaggon. Man
sollte erwarten, detaillierte Beschreibungen von Verletzungen zu lesen.
Aber weit gefehlt, der Abschnitt wirkt eher distanziert. Ich denke,
anders zu schreiben, wäre ihm wohl kaum möglich gewesen, um in dieser
Situation überhaupt weitermachen zu können.
„Den Rest der
Nacht laden wir Verwundete ein, der Zug besteht nur aus Viehwagen mit
Stroh und mitten unter den Stöhnenden sitzen Blitzmädchen, die man im
letzten Augenblick noch evakuieren will. Als der Zug voll ist, werden
die restlichen Verwundeten einfach auf dem Bahnsteig liegen gelassen und
ich habe später erfahren, dass der ganze Zug nicht mehr abgefahren
ist.“
Das Buch verbindet die persönlichen
Schilderungen des jungen Gerhard Freunds mit denen seines Sohnes im Jahr
2010. René Freund las nicht nur das Kriegstagebuch seines Vaters, er
suchte weitere Informationen, durchstöberte Archive und redete mit
Zeitzeugen. Und er dachte nach – wie man in einer solchen Situation
nachdenkt: Was hat er (der Vater) wohl empfunden, was hat er gedacht?
Was hätte ich in einer Lage wie der seinen getan? Wie ist das überhaupt
mit der Frage nach der Rechtfertigung eines Kriegs? Macht man es sich
nicht zu einfach, wenn man sagt, dass man ein Kriegsgegner ist?
„Der
Schriftsteller Doron Rabinovici erzählt mir bei einer Begegnung, er sei
kein Pazifist, sei nie Pazifist gewesen. »Die Sätze „Nie wieder Krieg“
und „Nie wieder Auschwitz“ widersprechen einander«, sagt er. Das kann
ich nur so stehen lassen.
Was wäre gewesen,
wenn man die Welt Adolf Hitler und seinen Erben überlassen hätte? Man
hätte das millionenfache Morden geduldet. Toleriert. Gesagt: Macht nur
weiter, wir finden das vielleicht nicht schön, aber wir lassen euch in
Ruhe.“
Eins wurde mir schnell klar: Dieses Buch bietet reichlich Stoff zum Nachdenken. René Freund schrieb an einer Stelle:
„Auch
diese Geschichte interessiert mich. Ich kann kaum einen Absatz
schreiben, ohne auf irgendein Detail zu stoßen, das mich zu weiteren
Nachforschungen anregt. Ich brauche viel länger für die Arbeit an diesem
Buch, als ich vorgesehen hatte.“
Tja, und ich brauchte viel mehr Zeit zum Lesen, als ich angenommen hatte!
Wenn
ich nicht gerade über das Gelesene nachdachte (und also weiterlas) nahm
ich immer neue Informationen auf. Sowohl über den zweiten Weltkrieg als
auch über die Familie des Autors. Dieses Buch ist ein wirklich
persönliches Buch, er schreibt darin umfassend über seine Eltern,
Großeltern und weitere Verwandte. Auch hierzu hat er wieder
recherchiert, in Nachlässen gesucht, Ämter angeschrieben. Am Ende stehen
mir viele Mitglieder der Familie deutlich vor Augen… Ich weiß ja nicht,
wie es anderen Lesern geht, aber schreckliche Ereignisse machen mich
häufig umso betroffener, wenn ich sie mit Namen und Gesichtern verbinden
kann. Apropos Gesichter! Fotos fehlen auch nicht im Buch! Allerdings
gibt es keine Schlachtenszenen, sondern größtenteils Familienfotos
(„1936, 1. Klasse Gymnasium“, „Gerhards kleine Schwestern Iduna und
Gudrun“) und Aufnahmen vom Soldaten Gerhard Freund im Kreis seiner
Kameraden.
Und dann gab es ja noch einen weiteren (im
weitesten Sinne) Verwandten: Den Vater von René Freunds Ex-Schwager,
einen Amerikaner. Private Frederick Giesbert landete am D-Day im
Abschnitt Omaha. Er war damals 24 Jahre alt. Er überlebte, doch…
„Als
Frederick 1945 als Held aus dem Krieg zurückkehrte, erkannte ihn seine
Mutter nicht wieder. Aus ihrem sanften, fröhlichen Jungen war ein
schweigsamer, zur Gewalttätigkeit neigender Mann geworden.“
Der
„D-Day“ – ein weiteres großes Thema dieses Buchs. Auch hier begibt sich
René Freund wieder auf die Reise. An den Originalschauplätzen, den
bekannten Strandabschnitten in der Normandie, verbindet er erneut seine
eigenen Gedanken mit Informationen. Für mich als Leserin bedeutete das,
dass ich auch zu diesem Thema viele (teils vollkommen neue) Eindrücke
bekam. Ein Beispiel: Die grausamen Szenen bei der Landung der Alliierten
kennt wohl jeder. Aber dass es vor diesem Datum in der Normandie so
viele Opfer durch Angriffe der Alliierten gegeben hatte, war mir nicht
bewusst. Und ich finde den Gedanken absolut erschreckend, wie man solche
Opfer billigend in Kauf nehmen konnte.
„1944 herrschte in
der sanften Landschaft der Normandie Krieg. Tod und Zerstörung zogen
über das Land. Vor der Landung am 6. Juni heulten fast Tag und Nacht die
Luftschutzsirenen. Alliierte Verbände bombardierten die Küste und das
Hinterland, um deutsche Stellungen zu zerstören. Präzision existiert in
keinem Krieg. Das, was heute zynisch »Kollateralschaden« genannt wird,
brachte die Bevölkerung der Normandie gegen die Alliierten auf. … So
trugen vor allem die Zivilisten das Leid der Bombardements, die der
Invasion vorangingen. Als die Landung begann, waren bereits 15.000 tote
und 19.000 verletzte französische Zivilisten zu beklagen. Der britische
Historiker Antony Beevor schreibt in seinem monomentalen Werk »D-Day –
Die Schlacht um die Normandie«: »Es ist ein ernüchternder Gedanke, dass
während des Krieges 70.000 französische Zivilisten von alliierter Hand
sterben mussten, mehr als die Gesamtzahl der Briten, die die Deutschen
mit ihren Bomben töteten.«“
Meine Güte, ich könnte
mich dranhalten. Selten war meine Liste von Notizen, die ich mir während
des Lesens mache, so lang. Die Fülle von Informationen zusammen mit den
vielen Gedankengängen fasziniert mich. Ich glaube, über das Thema
„Desertion“ habe ich noch nie so gründlich nachgedacht. Wie oft werden
Deserteure als Feiglinge bezeichnet?
„Doch zum Desertieren
gehörte Mut – nicht nur, sein Leben aufs Spiel zu setzen, sondern auch,
sich dem militärischen Kodex der »Kameradschaft« zu entziehen. Der Mut,
allein dazustehen.“
Eine in meinen Augen sehr zutreffende
Aussage! Dazu gab es erneut Infos – beispielsweise zum Umgang des
Staates mit Wehrmachtsdeserteuren. Damit tat und tut man sich auch heute
noch teilweise schwer.
„Im Gegensatz zu anderen Soldaten
oder SS-Mitgliedern, die »ihre Pflicht getan hatten«, rechnete der Staat
den Deserteuren die Jahre bei der Wehrmacht nicht für die Rente an. Die
Republik stellte sich also indirekt auf die Seite der NS-Behörden. …
Auch in Deutschland tat man sich schwer mit der Rehabilitierung der
Wehrmachtsdeserteure. Im Jahr 2002 hob der Bundestag die NS-Urteile
gegen Deserteure, Kriegsdienstverweigerer und »Wehrkraftzersetzer« auf.
Ausgenommen von der Rehabilitierung wurden sogenannte »Kriegsverräter«,
weil sie angeblich Zivilisten und Kameraden gefährdet hatten. Die
Unterscheidung erwies sich bei näherem Hinsehen als künstlich und –
schlimmer noch – verhaftet in der Diktion der NS-Justiz. Denn als
Kriegsverrat galt auch eine pessimistische Einschätzung des
Kriegsverlaufs, Kritik am Führer oder die Unterstützung von Juden. Erst
im Jahr 2009 – 64 Jahre nach Kriegsende – beschloss der Bundestag auch
eine Rehabilitierung der »Kriegsverräter«“
Wirklich
viel Stoff! Aber das Schöne an diesem Buch ist, dass es sich – wie ich
finde – auch Leser vornehmen können, die um das Genre „Sachbuch“
ansonsten einen Bogen machen. Denn die Auszüge aus dem Tagebuch ziehen
sich durch das ganze Buch und ebenso die Stationen der Reise von René
Freund. Und auch die Frage: „Was wurde nach dem Krieg aus Gerhard
Freund?“ wird beantwortet.
Gerhard Freund bemühte sich
zeitlebens, seinem Sohn seine Einstellung zum Krieg zu vermitteln. Ich
denke, dieses Buch hätte ihm gefallen.
© Manu
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