Carpe Diem
„Wohin wollen Sie denn? Dr. Heim erwartet Sie jetzt“, verfolgte
sie der Ruf der Sprechstundenhilfe durchs Treppenhaus. Die Stimme griff
nach ihr, konnte sie aber nicht mehr fassen. Leokadia rannte schon die
Treppe hinunter, übersprang am Ende jeder Etage die letzten Stufen,
eilte durch die große Eingangshalle und hastete durch die gläserne Tür
ins Freie.
Ein leichter Windhauch streifte sie
und trug Vogelgezwitscher mit sich. Unbeschwert schwatzend teilten zwei
Putzfrauen aus der Klinik ihre Frühstückspause auf der Bank neben dem
Eingang. Gleichmäßig floss der Autoverkehr über die breite Straße vor
dem Gebäude dahin. Überrascht und erleichtert zugleich erkannte
Leokadia, wie unbeteiligt sich das Leben hier draußen zeigte. Alles war
wie immer.“
Draußen war alles wie immer. Aber für
Leokadia hatte sich alles geändert. Hals über Kopf springt sie in ein
Auto und fährt los. Dabei überfährt sie beinahe Olli, der ebenfalls auf
der Flucht ist. Er findet seinen Job „zum Kotzen“, was er gerade noch
vor den Augen der Geschäftsführung und auf dem Schreibtisch seines Chefs
zum Ausdruck gebracht hat. Kurzentschlossen fahren die beiden gemeinsam
los. Was nun folgt, ist ein irrsinniger Roadtrip, der von Frankfurt am
Main durch Frankreich und Spanien führt.
„Solange wir nur vorankommen, sind wir auf dem richtigen Weg.“
Sehr
schnell wird deutlich: Wohin die beiden auch fliehen, der Tod ist ihnen
immer auf den Fersen. Und bald daher auch die Polizei…
Es
gibt ja so Bücher, da weiß man noch nicht so recht, was einen
eigentlich erwartet. Dieses Buch war so eins für mich. Ich bin darauf
aufmerksam geworden, weil mir das erste Buch der Autorin („Die
Buchwanderer“) so gut gefallen hatte. Nun weiß ich, dieses Buch ist ganz
anders, aber genauso toll :)
Das Ausgangsthema ist ja
ein durchaus ernstes: Zwei Menschen, die vor ihrem Schicksal fliehen
wollen. Im Kleinen dürfte diese Situation vielen bekannt vorkommen. Der
Vorsorgetermin beim Arzt, für den man einfach zu viel um die Ohren hat,
das unangenehme Gespräch mit dem Partner, für das sich einfach nicht der
richtige Moment finden lässt… Dabei redet man sich ein, dass sich die
Probleme in Luft auflösen, wenn man sie nur hinreichend ignoriert.
Manchmal klappt das sogar, aber halt nicht immer.
Olli und
Leokadia genießen zunächst ihren abenteuerlichen Trip, müssen aber bald
erkennen, dass ihre Probleme nun mal nicht zu denen gehören, die sich in
Luft auflösen.
Mmh, das klingt nach schwerem Stoff.
Nach einem Buch, das einen beim Lesen womöglich so richtig schön
runterziehen könnte. Keine Sorge, bei mir zumindest war das Gegenteil
der Fall. Denn das Buch vermittelt eine wunderbare Botschaft:
„Carpe diem“ – Genieße den Tag! Es macht Mut, sich mit der eigenen
Vergangenheit auseinanderzusetzen, die Gegenwart zu genießen und
optimistisch nach vorne zu schauen. Und dabei ist der Anspruch sehr
angenehm und unterhaltsam verpackt, so dass man nicht grübelnd vor dem
Buch sitzt, sondern beim Lesen quasi „nebenher“ zu diesen Erkenntnissen
gerät.
Olli und Leokadia werden förmlich von
Katastrophen verfolgt. Da fliegen Tanklaster in die Luft und Züge
entgleisen. Immer wieder lernen wir in kurzen Zwischenabschnitten
Menschen kennen, die alle eins gemeinsam haben: Verpasste Chancen in
ihrem Leben. In der Vielzahl, wie die Toten hier die Wege unserer
Protagonisten pflastern, wirken sie natürlich irritierend. Aber ich
glaube, wenige Einzelschicksale hätten mich betroffener gemacht, dem
Roman etwas von seiner Leichtigkeit genommen. Durch die – wie ich
annehme bewusste Überzeichnung – wirken die vielen Toten skurril. So
verfolgte ich also die Wege von Olli und Leokadia und wartete im Grunde
schon gespannt darauf, wen es wohl als nächstes erwischen würde ;-)
Im
Fazit ergibt das einen wirklich schönen Roman, der sich mit
Leichtigkeit und Humor einem durchaus ernsthaften Thema annimmt. Ich
jedenfalls klappte das Buch am Ende hochzufrieden zu – diesen Seitling
hatte ich auf jeden Fall schon mal genossen. Und jetzt versuche ich mal,
das mit dem Rest des Tages genauso zu halten.
„Ich
kann es nicht ertragen, dass jemand, der mir etwas bedeutet, sein Leben
verschwendet“, setzte er an. „Kennst du diese Geschichte von Charles
Dickens mit dem geizigen alten Ebenezer Scrooge? Drei Geister suchen ihn
heim. Einer furchterregender als der andere. Aber bei Dickens gibt es
ein Happy End, denn Scrooge kapiert nicht nur, dass er einen völlig
falschen Lebensweg eingeschlagen hat, sondern auch, dass er daran etwas
ändern kann. Solche Geister gibt es wirklich. Jedem begegnen sie
irgendwann einmal. Es sind die Krisen, in die wir geraten.
Schicksalsschläge, die unser Leben auf den Kopf stellen. Aber sie haben
durchaus ihr Gutes. Sie lassen uns innehalten und das Bisherige
überdenken. Es ist so verdammt wichtig, diese Chancen zu erkennen und
etwas daraus zu machen.“
© Manu
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