Schein und Sein
Der Geheimrat rieb sich die Hände. »Erraten! Ich reise diesmal
nicht als der Millionär Tobler, sondern als ein armer Teufel namens
Schulze. Endlich einmal etwas anderes. Endlich einmal ohne den üblichen
Zinnober.« Er war begeistert. »Ich habe ja fast vergessen, wie die
Menschen in Wirklichkeit sind. Ich will das Glashaus demolieren, in dem
ich sitze.«
Geheimrat Tobler gehört einer
Minderheit an. Er ist Millionär, sogar Multimillionär. Ihm gehören
diverse Fabriken, Banken und Warenhäuser. Unter dem Namen „Schulze“
nimmt er an einem Preisausschreiben einer seiner Firmen teil und gewinnt
tatsächlich den 2. Preis: Einen 10tägigen Winterurlaub in einem
Nobelhotel. Zum Entsetzen seiner Familie will er seinen Gewinn antreten –
allerdings nicht als reicher Mann, sondern als armer Schlucker Schulze.
Akribisch bereitet er sich vor…
„In Toblers Arbeitszimmer
sah es beängstigend aus. Neben den Neuanschaffungen lagen Gegenstände,
die der Geheimrat auf dem Oberboden in staubigen Truhen und knarrenden
Schränken entdeckt hatte. Ein Paar verrostete Schlittschuhe. Ein warmer
Sweater, der aussah, als habe er die Staupe. Eine handgestrickte
knallrote Pudelmütze. Ein altmodischer Flauschmantel, graukariert und
mindestens aus der Zeit der Kreuzzüge. Eine braune Reisemütze. Ein Paar
schwarzsamtene Ohrenklappen mit einem verschiebbaren Metallbügel. Ein
Spankorb, der längst ausgedient hatte. Und ein Paar wollene Pulswärmer,
die man seinerzeit dem Leutnant der Reserve in den Schützengraben
geschickt hatte.“
Seine Familie ist ja schon
einiges von ihm gewöhnt. Schließlich ist Tobler ein Mensch, der für
Nudeln mit Rindfleisch jedes 3-Sterne-Menü stehen lässt. Was in seinem
Kopf vor sich geht, ist den lieben Angehörigen daher völlig klar…
»Er will die Menschen studieren. Er will ihre Moral auf Herz und Nieren prüfen.«
Zur
gleichen Zeit macht sich ein tatsächlicher armer Schlucker auf die
Reise in dasselbe Nobelhotel. Ein junger Mann, seit Jahren arbeitslos,
von seiner Mutter in den einzig vorhandenen „guten“ Anzug gesteckt – und
der Gewinner des 1. Preises. Als jetzt noch Toblers Tochter heimlich
den Hoteldirektor anruft und über die Anreise eines verkleideten
Millionärs informiert, steht der Verwechslungskomödie nichts mehr im
Wege…
Viele werden die Verfilmung zu diesem Buch kennen,
das erstmals 1934 erschien. Ich mag sie auch, aber das Buch hat noch
seinen ganz besonderen Reiz. Dieser liegt begründet in der Art und
Weise, in der Kästner mit Worten umgehen konnte. Man fliegt durch den
Text und nimmt - ganz nebenbei – ironische Spitzen mit…
„Wenn eine Frau gehorcht, darf sie sogar gebildet sein.“
…und herrliche Satire, als kluge Sätze getarnt…
„Echte
Mißverständnisse vervielfältigen sich durch Zellteilung. Der Kern des
Irrtums spaltet sich, und neue Mißverständnisse entstehen.“
Natürlich
wirft man auch einen Blick in die Seele der Menschen. Wirklich
Überraschendes kommt dabei nicht zutage, denn mal ehrlich: Wie oft
beurteilt man einen Menschen nach seinem Aussehen? Wie normal ist es
doch, ohnehin schon reichen Menschen jede mögliche Aufmerksamkeit
zukommen zu lassen und sie mit teuren Werbegeschenken zu überhäufen, die
sich diese problemlos selbst kaufen könnten und im Grunde gar nicht
wertzuschätzen wissen während arme Menschen zusehen müssen, wie sie ihre
Grundbedürfnisse erfüllen können.
Im Grunde haben wir hier also
ein ernsthaftes Thema, das jedoch von Kästner so leicht und humorvoll
präsentiert wird, dass man sich beim Lesen einfach gut unterhalten
fühlt. Und am Ende, nachdem man das Buch hochzufrieden zugeklappt hat,
noch ein bisschen nachdenkt…
Ach ja, falls jemand die Geschichte noch gar nicht kennen sollte: Es ist keine
Weihnachtsgeschichte, sie spielt lediglich in einem Skigebiet. Und
auch, wenn sie schon ein paar Jahrzehnte auf dem Buckel hat, würde sie
heute sicher genauso ablaufen.
Fazit: Humorvoll, ironisch. Ein zeitloser Roman, der ein ernsthaftes Thema sehr unterhaltsam präsentiert.
Ein kleines Zitat möchte ich noch anbringen. Jeder Leser wird verstehen, warum:
»Ein
kleines Kind ist er! Ich weiß nicht, woran es liegt. Im Grunde ist er
doch ein gescheiter Mensch. Nicht? Und so nett und nobel. Aber plötzlich
kriegt er den Rappel. Vielleicht liest er zu viel. Das soll sehr
schädlich sein. Nun haben wir die Bescherung. Nun fährt er als armer
Mann in die Alpen.«
© Manu
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