Unfassbar
„19. August 1942
Mein Liebstes, Deine liebe Karte
vom 11. ds. haben wir erhalten und freuen uns, dass Du gesund bist, was
wir auch von uns sagen können. Von Tante Nuny haben wir noch immer
keine Nachricht. Tante Grete wird Dir bald schreiben. Mizzi lässt Dich
schön grüßen. Hörst Du etwas von Kurt Edlauer? Wo ist er jetzt?
Liebster, wenn Du wieder mehr Zeit hast, so schreib. Du weißt ja, wie
sehnsüchtig wir auf Deine Nachricht warten. 1000 Küsse, Deine Mutti.
Kein
Wort darüber, was an diesem Tag geschah, was der Briefträger gebracht
hatte, nichts über die Züge, die rund um die Uhr abgingen. Nichts über
die alte Julie Böhm, die vor ihrem Koffer stand und packte. Sie wird
ausgelassen, wird zu einem Schatten zwischen den Zeilen, damit Otto es
nicht erfahren und Elise es nicht schreiben musste. Damit das, was
geschah, beinahe nicht passierte, solange es ungesagt blieb.“
Am
1. Februar 1939 stieg der 13jährige Otto Ullmann in einen Zug, der ihn
von seiner Heimatstadt Wien aus nach Schweden bringen sollte. Ihn und
rund 100 weitere Kinder jüdischer Herkunft. Ihre Eltern hatten lange
darum gekämpft, dass sie ausreisen durften. Hatten Formulare ausgefüllt,
gewartet, gehofft. Und nun fuhren sie fort, auch der einzige Sohn von
Josef und Elise Ullmann. Würden sie ihn wohl irgendwann, irgendwo,
wiedersehen?
Aus der alten Heimatstadt heraus, in der
sie nicht mehr erwünscht sind, die sie aber trotzdem nicht verlassen
können, schreiben Josef und Elise Briefe an ihren Sohn. Briefe voller
Hoffnung, Briefe, in denen es um ganz alltägliche Dinge geht und die
fast so klingen, als wäre die Welt noch in Ordnung. In diesem Sachbuch
sind Auszüge aus vielen dieser Briefe zu lesen. Nur aus denen, die an
Otto adressiert waren. Von seinen Antworten ist keine einzige erhalten,
denn Josef und Elise Ullmann starben 1944 in Auschwitz.
Zusätzlich
zu den Briefen gibt es reichlich Fakten, Zeitungsberichte,
Aktennotizen. Einige Fotos. Das ermöglicht uns auch, ohne Ottos Briefe
zu kennen, sein Leben in Schweden zu verfolgen. Kann man sich
vorstellen, wie sich ein 13jähriger fühlen muss, der seine Familie
verlassen musste, einsam in einem fremden Land lebt und sehr schnell
merkt, dass seine Eltern in seinen Briefen nichts von seinen Problemen
und Ängsten lesen möchten, die nur lesen möchten, dass es ihrem Kind gut
geht und es eine normale und fröhliche Kindheit und Jugend hat. Auch,
wenn das nicht der Wahrheit entspricht.
Kann die
Einsamkeit dazu geführt haben, dass ein jüdischer Junge und ein
überzeugter Nazi gute Freunde werden konnten? Wie passt das zusammen?
Auch umgekehrt, wie konnte ein junger Mann gleichzeitig Nazi sein und
einen Juden seinen besten Freund nennen? Auch dieser interessanten Frage
nähert sich das Buch, unter anderem in Auszügen von Interviews mit
diesem Mann, diesem früheren Nazi. Der Ingvar Kamprad heißt und aus dem
Ort Elmtaryd Agunnaryd kam. Ingvar Kamprad Elmtaryd Agunnaryd. IKEA.
Unfassbar.
Diese ganze Geschichte, diese Berichte, diese Grausamkeiten. Das meiste
davon hatte ich schon oft gehört, auch schon reichlich Bilder dazu
gesehen, oder Filme. Und doch hat mich das Buch unheimlich mitgenommen.
Wie aus dem anfänglich ganz normalen Leben der Familie Ullmann nach und
nach jegliche Normalität verschwand, wie das Grauen immer mehr um sich
griff, wie die Familie trotzdem versuchte, nach vorne zu schauen, die
Hoffnung nicht zu verlieren.
Und dabei wusste ich doch die ganze
Zeit, dass es keine Hoffnung gibt. Dass all das, was sich im Buch schon
als furchtbar, grausam, unmenschlich und erschreckend darstellt, doch
erst der Anfang ist.
Dazu kamen detaillierte Infos über
die Rolle Schwedens während dieser Zeit. Was das betrifft, habe ich
einiges Neues erfahren. Und auch hier war vieles dabei, das mich
kopfschüttelnd zurückließ.
Kein Buch, das man nebenbei
lesen kann. Kein Buch, nach dem man sich entspannt in sein Bett kuscheln
kann. Aber ein sehr gutes Buch.
Wer sich für dieses Buch und für das Thema interessiert kann hier eine Leseprobe finden.
© Manu
In diesem Blog werde ich in meiner Bücher-Schatzkiste stöbern und die Leseerlebnisse mit Euch teilen. Folgt mir in die Tiefen meiner Schatzkiste und entdeckt zusammen mit mir die Schätze und Kostbarkeiten die sie enthält.
Montag, 26. Mai 2014
Gastrezension - Und im Wienerwald stehen noch immer die Bäume von Elisabeth Åsbrink
Labels:
10 Punkte,
Biographie,
Elisabeth Åsbrink,
Gastrezension
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Dieses Buch will ich auch unbedingt noch einmal Lesen. Danke Manu für diese tolle Rezension. Die macht sehr neugierig auf das Buch und die Geschichte die dieses Buch enthält.
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