Donnerstag, 23. Oktober 2014

Gastrezension - Totensonntag von Andreas Föhr

Mord verjährt nicht

„Was machst denn für einen Scheiß?“, sagte Wallner, weil er nicht wusste, was er sonst sagen sollte. „Kannst du atmen?“

Nissl nickte und ergriff den Ärmel von Wallners Daunenjacke. „Mir ist kalt“, sagte er, während er Wallner zu sich zog. Der nahm ein Zittern wahr, das so dezent war, dass Wallner es in der ersten Aufregung nicht bemerkt hatte.

„Bleib ruhig. Die sind gleich da. Dann holen wir einen Krankenwagen.“ Wallner sah hinunter zu der Stelle, an der der Bergpfad endete und die Forststraße begann. Hier würden in wenigen Minuten einige Fahrzeuge der Polizei eintreffen. Und in einem davon wäre ein Funkgerät, hoffte Wallner, und es kam ihm der Gedanke, dass man alle Polizisten mit Mobiltelefonen ausrüsten sollte. Dann hätte er längst einen Notarzt verständigen können.

„Ich muss dir was sagen“, flüsterte Nissl.

„Beweg dich nicht so viel. Und spar dir den Atem.“ Wallner zog seine Daunenjacke aus und deckte sie über Nissl. Der hörte nicht auf zu zittern, und jetzt fing auch Wallner damit an. Der Föhn hatte nachgelassen, und die Temperaturen bewegten sich langsam auf den Nullpunkt zu.

„Den Sarg aus Glas … ich … ich hab den wirklich gesehen.“

„Wenn du wieder gesund bist, dann zeigst du ihn mir. Einverstanden?“

„Bist a anständiger Kerl.“ Er nahm Wallners Hand. Nissls Hand war erstaunlich weich und kalt wie der Tod. „Zieh die Jacke wieder an. Ich brauch sie nicht.“ „Du brauchst sie“, sagte Wallner und spähte den Berg hinab, ob sich nicht von irgendwo Lichter näherten oder Motorengeräusch zu hören war.

„In dem Sarg liegt eine Frau. Sie … sie hat ein Loch im Kopf. Von einer Kugel.“ Nissl konnte nicht weitersprechen. Er hustete und hielt sich die Hand vor den Mund. Die Hand färbte sich schwarzrot, ebenso Nissls Mund. Wallner versuchte, ihn mit einer Geste zu beschwichtigen.
„Komm, bitte! Halt dich ruhig. Wir gehen zusammen zu deinem Sarg. Wenn das hier vorbei ist. Versprochen.“

„Ich geh nirgends mehr hin“, hauchte Nissl. „Sankt Veit. Hörst du? Der Sarg ist in Sankt Veit, im Keller.“ Er starrte Wallner mit aufgerissenen Augen an und quetschte dessen Unterarm mit der blutverschmierten Hand. „Ich hab die Frau auf dem Gewissen!“

Der alte Nissl, der hier so dramatisch stirbt, war Wallner und seinem Kollegen Kreuthner gut bekannt. Ein kleiner Ganove, Alkoholiker, ohne festen Wohnsitz und mit einem beachtlichen Vorstrafenregister, was Einbrüche und Diebstähle angeht. Aber dass er einen Menschen auf dem Gewissen haben soll, kann sich niemand vorstellen. Und was soll diese Sache mit dem gläsernen Sarg, in dem schneewittchengleich eine Tote liegen soll? Als die beiden Beamten dem Hinweis nachgehen, stoßen sie auf ein Verbrechen, dessen Aufklärung sie weit in die Vergangenheit führen wird – bis hin zu einem Maitag des Jahres 1945…

Diesen Krimi habe ich förmlich eingeatmet! Der Schreibstil war sehr angenehm und kurze Kapitel führten dazu, dass ich immer „nur noch eins“ mehr lesen wollte. Sehr spannende Abschnitte wechselten mit Passagen voller trockenem Humor ab und immer wieder gab es Rückblenden in das Jahr 1945, bei deren Dramatik mir teilweise ganz anders wurde. Der Krimi selbst spielt im Jahr 1992, was insofern bedeutsam ist, als dass es noch reichlich Zeitzeugen für das Ende des zweiten Weltkriegs gibt. Und Beteiligte.

Wie ist das, wenn jemand, den man kennt, mit dem man vielleicht sogar verwandt ist, eine SS- oder SA-Vergangenheit hat? Viele von ihnen haben sich nach dem Krieg wieder eine „normale“
bürgerliche Existenz aufgebaut und haben kein großes Interesse daran, über ihr früheres Leben zu reden. Wallner und Kreuthner haben es nicht leicht, die Geister der Vergangenheit aufzuscheuchen. Dass sie aber auf einem guten Weg sind, merken sie schon bald, denn auf den „alten“ Mord folgt ein aktueller. Eins ist doch klar: Wer im Jahre 1945 keine Skrupel hatte, der kennt sie auch 1992 nicht. Obwohl es auch Verdächtige jüngeren Alters gibt… Ein kniffliger Fall!

Die Charaktere bieten uns das beliebt-bewährte grundverschiedene Ermittler-Duo, hier noch gewürzt mit einer recht unkonventionellen Staatsanwältin. Wallner ist der leicht spießige, überaus korrekte Typ und Kreuthner, nun ja, das genaue Gegenteil.  Alle Freunde von ihnen werden sich freuen, die beiden hier mal als ganz junge Beamte zu erleben. Und wer sich immer schon mal gefragt hat, wieso Wallner ständig friert, erhält in diesem Buch die Antwort darauf.

Auch wer Regionalkrimis mag, kommt hier auf seine Kosten. Die bayerischen Schauplätze liefern schöne Landschaftsbeschreibungen, uriges Brauchtum und Dialekt. Ein Nichtbayer (so wie ich) muss aber keine Verständnisprobleme fürchten, denn auch wenn Sätze wie „Du! Du kannst mir mal an Schuah aufblasen!“ nicht zu meinem Sprachgebrauch gehören, kann ich ihre Aussage doch problemlos nachvollziehen ;-)

Die Auflösung war schlüssig, die Handlung ließ mich lange miträtseln und brachte sowohl überraschende Wendungen als auch die ein oder andere „Hände-über-dem-Kopf-zusammenschlag“-Situation. Fazit: Spannend, unterhaltsam und anspruchsvoll – dieser Krimi ließ bei mir keinen Wunsch offen.

© Manu

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