Mord verjährt nicht
„Was machst denn für einen Scheiß?“, sagte Wallner, weil er nicht wusste, was er sonst sagen sollte. „Kannst du atmen?“
Nissl
nickte und ergriff den Ärmel von Wallners Daunenjacke. „Mir ist kalt“,
sagte er, während er Wallner zu sich zog. Der nahm ein Zittern wahr, das
so dezent war, dass Wallner es in der ersten Aufregung nicht bemerkt
hatte.
„Bleib ruhig. Die sind gleich da. Dann
holen wir einen Krankenwagen.“ Wallner sah hinunter zu der Stelle, an
der der Bergpfad endete und die Forststraße begann. Hier würden in
wenigen Minuten einige Fahrzeuge der Polizei eintreffen. Und in einem
davon wäre ein Funkgerät, hoffte Wallner, und es kam ihm der Gedanke,
dass man alle Polizisten mit Mobiltelefonen ausrüsten sollte. Dann hätte
er längst einen Notarzt verständigen können.
„Ich muss dir was sagen“, flüsterte Nissl.
„Beweg
dich nicht so viel. Und spar dir den Atem.“ Wallner zog seine
Daunenjacke aus und deckte sie über Nissl. Der hörte nicht auf zu
zittern, und jetzt fing auch Wallner damit an. Der Föhn hatte
nachgelassen, und die Temperaturen bewegten sich langsam auf den
Nullpunkt zu.
„Den Sarg aus Glas … ich … ich hab den wirklich gesehen.“
„Wenn du wieder gesund bist, dann zeigst du ihn mir. Einverstanden?“
„Bist
a anständiger Kerl.“ Er nahm Wallners Hand. Nissls Hand war erstaunlich
weich und kalt wie der Tod. „Zieh die Jacke wieder an. Ich brauch sie
nicht.“ „Du brauchst sie“, sagte Wallner und spähte den Berg hinab, ob
sich nicht von irgendwo Lichter näherten oder Motorengeräusch zu hören
war.
„In dem Sarg liegt eine Frau. Sie … sie
hat ein Loch im Kopf. Von einer Kugel.“ Nissl konnte nicht
weitersprechen. Er hustete und hielt sich die Hand vor den Mund. Die
Hand färbte sich schwarzrot, ebenso Nissls Mund. Wallner versuchte, ihn
mit einer Geste zu beschwichtigen.
„Komm, bitte! Halt dich ruhig. Wir gehen zusammen zu deinem Sarg. Wenn das hier vorbei ist. Versprochen.“
„Ich
geh nirgends mehr hin“, hauchte Nissl. „Sankt Veit. Hörst du? Der Sarg
ist in Sankt Veit, im Keller.“ Er starrte Wallner mit aufgerissenen
Augen an und quetschte dessen Unterarm mit der blutverschmierten Hand.
„Ich hab die Frau auf dem Gewissen!“
Der alte
Nissl, der hier so dramatisch stirbt, war Wallner und seinem Kollegen
Kreuthner gut bekannt. Ein kleiner Ganove, Alkoholiker, ohne festen
Wohnsitz und mit einem beachtlichen Vorstrafenregister, was Einbrüche
und Diebstähle angeht. Aber dass er einen Menschen auf dem Gewissen
haben soll, kann sich niemand vorstellen. Und was soll diese Sache mit
dem gläsernen Sarg, in dem schneewittchengleich eine Tote liegen soll?
Als die beiden Beamten dem Hinweis nachgehen, stoßen sie auf ein
Verbrechen, dessen Aufklärung sie weit in die Vergangenheit führen wird –
bis hin zu einem Maitag des Jahres 1945…
Diesen Krimi
habe ich förmlich eingeatmet! Der Schreibstil war sehr angenehm und
kurze Kapitel führten dazu, dass ich immer „nur noch eins“ mehr lesen
wollte. Sehr spannende Abschnitte wechselten mit Passagen voller
trockenem Humor ab und immer wieder gab es Rückblenden in das Jahr 1945,
bei deren Dramatik mir teilweise ganz anders wurde. Der Krimi selbst
spielt im Jahr 1992, was insofern bedeutsam ist, als dass es noch
reichlich Zeitzeugen für das Ende des zweiten Weltkriegs gibt. Und
Beteiligte.
Wie ist das, wenn jemand, den man kennt, mit
dem man vielleicht sogar verwandt ist, eine SS- oder SA-Vergangenheit
hat? Viele von ihnen haben sich nach dem Krieg wieder eine „normale“
bürgerliche
Existenz aufgebaut und haben kein großes Interesse daran, über ihr
früheres Leben zu reden. Wallner und Kreuthner haben es nicht leicht,
die Geister der Vergangenheit aufzuscheuchen. Dass sie aber auf einem
guten Weg sind, merken sie schon bald, denn auf den „alten“ Mord folgt
ein aktueller. Eins ist doch klar: Wer im Jahre 1945 keine Skrupel
hatte, der kennt sie auch 1992 nicht. Obwohl es auch Verdächtige
jüngeren Alters gibt… Ein kniffliger Fall!
Die
Charaktere bieten uns das beliebt-bewährte grundverschiedene
Ermittler-Duo, hier noch gewürzt mit einer recht unkonventionellen
Staatsanwältin. Wallner ist der leicht spießige, überaus korrekte Typ
und Kreuthner, nun ja, das genaue Gegenteil. Alle Freunde von ihnen
werden sich freuen, die beiden hier mal als ganz junge Beamte zu
erleben. Und wer sich immer schon mal gefragt hat, wieso Wallner ständig
friert, erhält in diesem Buch die Antwort darauf.
Auch
wer Regionalkrimis mag, kommt hier auf seine Kosten. Die bayerischen
Schauplätze liefern schöne Landschaftsbeschreibungen, uriges Brauchtum
und Dialekt. Ein Nichtbayer (so wie ich) muss aber keine
Verständnisprobleme fürchten, denn auch wenn Sätze wie „Du! Du kannst mir mal an Schuah aufblasen!“ nicht zu meinem Sprachgebrauch gehören, kann ich ihre Aussage doch problemlos nachvollziehen ;-)
Die
Auflösung war schlüssig, die Handlung ließ mich lange miträtseln und
brachte sowohl überraschende Wendungen als auch die ein oder andere
„Hände-über-dem-Kopf-zusammenschlag“-Situation. Fazit: Spannend,
unterhaltsam und anspruchsvoll – dieser Krimi ließ bei mir keinen Wunsch
offen.
© Manu
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